Candyflossophy: «Normcore» – This is Hardcore: Normalo ist das neue Schwarz!

Krass! Haltet euch fest: Kürzlich lauf ich in einem grauen Sweater, ausgebeulten straight-cut Jeans und ausgelatschten Turnschuhen zur Post, um meine Steuererklärung einzuwerfen und danach ein Glas Nutella zu kaufen (war grad Aktion im Coop). Dabei werd ich von Google Street View gefilmt und, boom: Mein Look wird auf allen namhaften Streetstyle Sites gehyped!

Okay, stimmt nicht ganz. Mein Sweater war natürlich nicht grau, sondern Himbeersorbet-farben, meine Steuern hab ich noch nicht ausgefüllt und okay, ein bisschen geflunkert ist auch die Google-Street-View-Geschichte. Aber, die Moral bleibt: Es könnte bald so oder ähnlich geschehen! «Normcore» heisst das Zauberwort, das in letzter Zeit das Mode-Netz flutet. Ein Zusammenzug aus «normal» und «hardcore», ersonnen von K-Hole, einem New Yorker Trendforschungs-Kollektiv und mittlerweile von der Modeindustrie zu eigenen Zwecken übernommen. Der Begriff beschreibt ein Phänomen, wonach man die aktuellen NY-Hipster kaum von amerikanischen Normalos mittleren Alters unterscheiden kann. Vorbei sind die Zeiten von Bärten, Jute-Beuteln und Trucker-Caps – heute trägt Williamsburg «Mum- und Dad-Jeans», Fleece-Jacken, weisse Socken und möglichst unspektakuläre Jogging-Turnschuhe. Pate bei dem Look stehen Jerry Seinfeld und Seinfeld-Co-Erfinder Larry David, die New Kids on the Block (I still love you, Joey!), Steve Jobs und als weibliches Pendant La Moss in 90er-Privatfotos. Selbst Stefan Raab kommt zu modischen Ehren und wird auf einer deutschen Site als Orientierungshilfe für den Look angeboten.

Es muss hinzugefügt werden, dass dieser «Normalo», aus unserer Sicht, offenbar in den Neunzigern angesiedelt ist (was jedoch bei Ami-Touristen mittleren Alters gegenwärtig noch nicht an Aktualität eingebüsst hat) und sich somit optimal in andere derzeitige Strömungen einbettet. Auch sonst war diese Entwicklung nur eine Frage der Zeit. Auf eine These folgt eine Antithese und auf die explosionsartige Verbreitung von Fashionblogs in den letzten zehn Jahren, seit Mode quasi gross in Mode ist und sich die Paradiesvögel überall tummeln, konnte nur ein absolutes In-den-Hintergrund-verschwinden-wollen, eine Glorifizierung des unmodischen Normalo-Fussvolk-Bürgers folgen.

Schon jetzt zeichnen sich Adaptionen des Looks auch in der High Fashion ab. Bald werden demnach Gucci-Pucci-Prada-People auf folgende Menschen zwecks Inspiration schielen: a) Mode-Uninteressierte oder b) Leute, die sich zwar sehr wohl für Mode interessieren, denen aber die finanziellen Mittel für Gucci-Pucci fehlen. Hmm. Mutet irgendwie zweifelhaft an.

Unweigerlich denkt man dabei an «Common People», den 1995er-Song von Pulp. Der Song, aus dem bezeichnend betitelten Album «Different Class», thematisiert sogenannten «Klassen-Tourismus», die «Glamourisierung» von niedrigeren sozialen Schichten. Im Text lernt der englische Arbeiterklassen-Protagonist eine Griechin aus wohlhabendem Haus kennen, welche ihm sogleich offenbart, dass sie gern wie «common people», einfache Leute, leben möchte, all das tun möchte, was einfache Leute tun, mit einfachen Leuten schlafen möchte. Solchen Leuten wie ihm. Als ersten Trip in die von ihr ersehnte Welt, nimmt er sie mit in einen Supermarkt: «I said pretend you’ve got no money, she just laughed and said oh you’re so funny. I said yeah? Well I can’t see anyone else smiling in here». Er schlussfolgert, dass sie ihn nie verstehen wird, denn wenn des Nachts die Kakerlaken an ihrer Zimmerwand hochkrabbeln, könne sie ihren Dad anrufen, der allem Elend ein Ende setzt.

Ist es Zufall, dass das Nachfolgealbum von Pulp «This is Hardcore» hiess? Haben die Erfinder von «Normcore» damals Pulp gehört? Nun, ich hab keine Zeit darüber nachzudenken, hab gleich ein Meeting mit Jeremy Scott. Er entwirft eine Parodie meines Looks für die nächste Moschino-Kollektion.

Yours truly,
@Candyfloss

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